Da liegt sie nun vor mir, die kühle Blonde aus der Upper East Side im zugeknöpften Trenchcoat, die mich nie interessiert hat. Ich hatte nur Augen und vor allem Ohren für Paul, dem Linkshänder-Bass der Beatles. Erst als Linda 1998 an Brustkrebs 57-jährig stirbt, habe ich die Künstlerin im Schatten des Pilzkopf bewusst wahrgenommen.
Heute stehe ich, Jahrgang 1962, ein Vierteljahrhundert später im Schloss Oberhausen, Ludwig Galerie, an der Entree-Vitrine der Ausstellung „Fotografin unter Musikern. Linda McCartney. The Sixties and more“. Und bin gefesselt vom Objekt der Begierde: die Nikon F, mit der Linda die Fab Four, die Stones, The Who, aber auch Jimi Hendrix, Jim Morisson, Meat Loaf, Eric Clapton, Janis Joplin, Jackson Browne und andere Musiker aus jener wilden Zeit der aufblühenden Rock-Ära abgelichtet hat.
Für jeden, der die Kamera liebt, ist das ein erhabener Moment. Die Nikon F ist die Mutter aller folgenden Kleinbild-Spiegelreflexkameras. Mit dem digitalen Enkel der analogen Diva gehe ich heute auf die Fotopirsch: die Nikon Z6.
Die beeindruckendsten Fotografien in Oberhausen sind für mich die Roadworks, die Linda mit ihrem ausgeprägten Bewusstsein für den flüchtigen Moment geschossen hat, teilweise aus dem fahrenden Auto heraus. Auf den beiden oberen Etagen von Schloss Oberhausen wird mir schließlich bewusst, wie dieses Augen-Genie die Kunstszene mit ihrem Gespür für „Seeing“ beeinflusst hat. Sei es beim interaktiven Cover mit der schälbaren Banane von Andy Warhol für Velvet Underground, sei es bei den Sticky Fingers mit echtem Reißverschluss für die Stones, sei es beim surrealen Gemälde von Mati Klarwein mit psychedelischem Touch, was Carlos Santana ebenso beflügelt hat wie Pink Floyd.
Seit dem 17.07.2022 steht Linda bei mir im Licht, und Paul tritt in den Schatten.